Filmkunstplakate & Filmhefte als visuelle & verbale Wohltäter

AutorIn
Victor Malsy, Philipp Teufel
Erscheinungsjahr
2007
Quelle
Müller/Weiland (Hg.): »FilmKunstGrafik – Ein Buch zur neuen deutschen Filmgrafik der sechziger Jahre«, Deutsches Filminstitut, Frankfurt am Main 2007

War Dr. Holl ein Wohltäter für das Filmplakat?

Dr. Holl, 1951 in Essen in der Lichtburg uraufgeführt, findet sein breites Kinopublikum, das ihn und seine selbstlosen Taten eifrig beklatschte. »Er gehört zu jener anspruchslosen, sich aber sehr bedeutungsvoll gebenden Unterhaltungsware und hält sich an das Schema der Arztromane, in denen es mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen und mit der Therapie nicht so genau genommen wird. Angelika, ein zartes Seelchen, Tochter eines schwerreichen Industriellen, findet ihren Wunderdoktor, der mit Hilfe eines Serums, mehr aber durch die Allmacht der Liebe, die Todkranke heilt und mit Schwiegerpapas Geld seine Forschungen auf großer Basis weiter betreiben kann (…)«, wird Karl Walther Klager in einem Katalog  zitiert. Auf der Strecke bleiben nicht nur im Film Dr. Holl, sondern auch im dazugehörigen Pla-kat ästhetischer Anspruch und Verständlichkeit. Verklärende Porträtzeichnungen und eine Illustratorentypografie in Form eines ungenießbaren Typo-Cocktails über eine Landschaft mit herannahendem Gewitter entsprechen der anspruchslosen Bastelarbeit des Films. Film und Plakat begegnen sich auf Augenhöhe: Der deutsche Nachkriegsfilm ist rückwärts gerichtet, und die Typografie auf den Filmplakaten folgt ihm. Als hätte es »Die Neue Typografie« der zwanziger Jahre mit ihren ästhetischen Manifesten eines Lissitzky, Schwitters oder Tschichold nicht gegeben, werden elementare Gestaltungsprinzipien wie Kontrast, Rhythmus, Dynamik oder Montage ignoriert. Geboten wird ein gestalterischer Einheitsbrei aus gepinselter Schrift und süßlicher Illustration, die sich in ihrer Komposition gemeinsam im Kreis drehen.

In Opposition zur kommerziellen Filmwirtschaft und zu Adenauers Wahlspruch jener Jahre »Keine Experimente!« bringt der ehemalige Göttinger Jurastudent Walter Kirchner seit 1953 mit seinem Filmverleih Neue Filmkunst Walter Kirchner die internationale Filmkunst der Klassik und Moderne in die deutschen Film-Clubs und Programmkinos. Es sind meist Produktionen für eine Minderheit, für eine junge Generation, »die sich frisch, frech, fröhlich, sinnlich, optimistisch – insgesamt lebenslustig – fühlte und gab«, formuliert der Autor Hermann Glaser. Es sind Filme für die »twen«-Generation, für Jazzhörer und für an Literatur im Umfeld der Gruppe 47 Interessierte. Bridget Riley schildert 1991 rückblickend über ihre Künstlergeneration in England ähnliches: »Die sechziger Jahre markierten einen einmaligen Umschlagpunkt. Der Krieg und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre waren endlich vorüber. (…) Wir blickten zurück auf eine imaginäre Vergangenheit lange vor dem Krieg, auf eine Vergangenheit, die eine besondere Anziehungskraft ausübte, ähnlich wie der Krieg sich nur dadurch hatte ertragen lassen, daß man die Zeit danach mit Träumen und Sehnsüchten einfärbte. Die sechziger Jahre stellten eine ›Gegenwart‹ dar, in der diese zeitlichen Spannungen aufgelöst werden konnten. Das Ergebnis war eine Explosion von Optimismus und Selbstvertrauen, Ausgelassenheit und Tatkraft, die damals als völlig normal angesehen wurde.«

Von einem der nach Kassel auszog, das deutsche Filmplakat zu retten
Hans Leistikow und die Weiterentwicklung der Neuen Typografie in Nordhessen

Hans Leistikow arbeitet von 1925 bis 1930 als Leiter des grafischen Büros der Stadt Frankfurt und zeichnet bis Heft 9/1930 verantwortlich für die Gestaltung der Zeitschrift »Das Neue Frankfurt«. »Das Neue Frankfurt« ist eine modern aufgemachte Monatsschrift, geprägt von den Mitteln der elementaren, neuen Typografie: »gut lesbar die Grotesktype, ausgespielt der Kontrast von bedruckter und unbedruckter Fläche, betont das Schema der Seitenaufteilung durch dicke und weniger dicke Linien«, beschreibt Heinz Hirdina in seiner Einführung »Versuch über Das Neue Frankfurt« 13 die Publikation. 1948 wird Hans Leistikow zum Leiter der Klasse für freie und angewandte Grafik an die Staatliche Werkakademie Kassel berufen. Eckhard Neumann kommentiert in dem Buch »Ein Plakat ist eine Fläche, die ins Auge springt«: »Seine Arbeiten und Erfahrungen als Designer, die geprägt waren durch den Aufbruch der Kunst und der
funktionalen Gestaltung der zwanziger Jahre, an dem er in Frankfurt und in der Sowjetunion aktiv beteiligt war, legten den Grundstein zu einer Tradition, die nicht in stilistischen Dogmen, sondern im Anspruch an ästhetische Qualitäten, Deutlichkeit und Prägnanz von Aussagen und deren gestalterischer Umsetzung und – dies nicht zuletzt – in menschlicher Zusammenarbeit und Partizipation begründet wurde. Anregen, verstehen und helfen und zur Mitarbeit und zur eigenständigen Entwicklung motivieren, war seine Grundhaltung als Lehrer.« Eine Besonderheit im Lehrkonzept von Hans Leistikow sind die seit Anfang der fünfziger Jahre hochschulintern durchgeführten Wettbewerbe für Filmkunstplakate des progressiven Filmverleihs Neue Filmkunst Walter Kirchner. Fern von stilistischen Zwängen und Strömungen arbeiten hier Studierende an »echten Aufträgen«, bei denen die beste Lösung gewinnt und realisiert wird. Die typografischen Mittel und Möglichkeiten nach 1945 sind begrenzt. Schriften stehen nur in geringer Auswahl zur Verfügung und große Schriftgrade für die Plakatgestaltung fehlen vielfach gänzlich. Im Typografieunterricht konstruieren Studierende fette Groteskschriften, schneiden sie mit der Schere aus und setzen daraus wiederum Texte für ihre Plakate zusammen. Gute Lesbarkeit, Deutlichkeit in den Buchstabenformen und Charakter gelten Leistikow als wichtige Kritierien für eine gute Schrift. Daneben gibt er seinen Studierenden mit der Schabloniertechnik ein einfaches und kostengünstiges Verfahren an die Hand, Typografie zu vervielfältigen und plakativ einzusetzen. Hans Hillmann erinnert sich: »Ich schnitt die Bildmotive in Linoleum, meist auch
die Titelzeile, dann wurden die kleineren Schriftgerade im Beisatz hergestellt und das Ganze in einer Form geschlossen und gedruckt.«

Schweizer Typografie, russische Oktoberrevolution, japanische Kalligrafie und der Schriftentwerfer Edward Johnston bilden den typografischen und kulturellen Kosmos, den Leistikow seinen Schülern in der nordhessischen Provinz vermittelt. Gefasst wird dieser Kosmos in ein konzeptionelles Denken, das nicht allein auf formal-ästhetische Phänomene setzt, sondern im Sinne eines Autorenplakates den Gestalter verpflichtet, die Intentionen des Regisseurs zu denken und den Blick des Kameramanns visuell neu zu interpretieren. Das Medium Film wird so in das Medium Plakat überführt. Es gilt, »etwas vom Fluss der Bilder aus dem Kino in die vergleichsweise starren Darbietungsformen des Druckmedien zu übersetzen«, schreibt Hans Hillmann im Buch »Wolfgang Schmidt, Worte und Bilder«. Wolfgang Schmidt gelingt diese Transformation in seinen Filmkunstplakaten in herausragender Weise. Nicht nur sein Umgang mit selbst erstellten Schwarz-Weiß-Fotos aus den Filmen, sondern auch und besonders seine systematisch-kinetische Typografie, die zum bewegten Buchstabenfeld wird, assoziieren in den Plakaten immer wieder filmische Momente.

Die Typografie in den Filmkunstplakaten der Kasseler Schule hat bei aller gestalterischen Freiheit stets eine integrierende Funktion. Der Leistikow-Schüler, gelernte Buchhändler, spätere Professor für Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Düsseldorf und Mitbegründer des Forums Typografie, Helmut Schmidt-Rhen, beschreibt die Rolle der Typografie  treffend: »Typografie ist keine eigenständige, sondern eine vermittelnde Gestaltungsdisziplin. Wenn überhaupt, so hat sie eine übersetzende Funktion zwischen Verstehen und Erkennen, zwischen Sprache und Bild, zwischen Lesen und Sehen; im Idealfall hat sie eine integrierende Funktion.«

Was die Typografie in der Filmkunst sucht – und findet
Filmkunstplakate, Filmhefte und Filmvorspänne aus der Kasseler Schule als »appetitliche und sehr reizvolle Kulturträger«

Walter Kirchner war davon überzeugt, »dass nur, das mit künstlerischem Ernst gestaltete Plakat oder Programmheft über Inhalt und Form eines Kunstwerks richtig informieren kann.« Für ihren hohen ästhetischen Anspruch an ihre Filmkunstplakate und ihre Filmhefte finden Neue Filmkunst Walter Kirchner und ab 1960 auch Hanns Eckelkamp mit der Atlas Filmverleih GmbH in Hans Leistikow und seinen Schülern kongeniale Partner für die Entwicklung einer neuen, visuellen Sprache des deutschen Filmplakats. »Für die beiden Filmkunstverleihe arbeitete nun ein kleiner, in seiner Zusammensetzung erstaunlich konstanter Kreis vorzüglicher Grafiker, deren Namen schnell aufgezählt sind: außer Hillmann und Ehepaar Fischer-Nosbisch waren es K. O. Blase, Edelmann, Michel + Kieser, Isolde Baumgart (jetzt Monson-Baumgart), Wolfgang Schmidt, Lenica und Rambow + Lienemeyer; (…) Diese Grafiker-Equipe konnte in der sechziger Jahren das deutsche Filmplakat zu einer Blüte führen, die auch im Ausland Aufsehen erregte und Anerkennung fand«, schreibt Klaus Popitz in seiner Vorbemerkung zum Ausstellungskatalog »25 Jahre Filmplakate in Deutschland 1950 – 1975«.

Aufsehen erregen und Anerkennung finden konnte diese Gruppe mit ihrer Ge-staltung auch deshalb, weil sie von ihren Auftraggebern viel gestalterische Freiheit bekam, die Zusammenarbeit »in einer sehr angenehmen Atmosphäre stattfand« und das Motto der progressiven Filmverleiher wohl lautete: »Bitte experimentieren!« Hans Hillmann, der zwischen 1953 und 1974 etwa 130 Filmplakate entwarf und 1961 die Nachfolge von Hans Leistikow in der Kasseler Schule antrat, schildert rückblickend: »In dieser Zeit haben sich das Vorgehen beim Entwerfen, die Darstellungsweise und die Repro- und Drucktechnik entwickelt und verändert, und ich habe reichlich Gelegenheit gehabt, meine verschiedenen Neigungen, Vorlieben und Interessen in diese Arbeit einzubringen.«18 Der Gegenwärtigkeit der typografischen, fotografischen, illustrativen und drucktechnischen Mittel stellen die Plakatgestalter ihre ästhetischen Sichtweisen und Standpunkte zur Seite. Eine junge Gestaltergeneration erfindet mit ihrer Denkweise das deutsche Filmkunstplakat.

Als Einheit wird es begriffen, als ein mal filigranes, mal herzhaftes Zusammenspiel von Bild und Schrift. Diese Plakatgestalter beherrschen ihre künstlerisch-formalen Mittel Fotografie, Illustration und Typografie. Filmtitel und Darsteller werden in ihren Plakaten nicht einfach in eine Leerstelle »dazugesetzt«, Typografie ist gleichberechtigter – manchmal gar als erstes ins Auge springender – Bestandteil der Gesamtkomposition. Buchstaben, Worte – die Typografie wird oft zuerst als Bild gesehen und dann erst gelesen. Dramaturgisch gesetzte Schriftzeilen – beispielsweise im Filmkunstplakat Misfits von Isolde Baumgart – heben die formale Trennung von Bildelementen auf und montieren das Plakat zu einer geschlossenen Einheit. Die Phänomene elementarer Gestaltung wie Kontrast, Asymmetrie, Perspektive, Kinetik und Rhythmus werden in souveräner Weise angewandt. Wolfgang Schmidt fotografiert als einer der ersten Szenenbilder von der Kinoleinwand, um sie für die Plakatgestaltung einzusetzen. Mit den hart abgezogenen Schwarz-Weiß-Fotos und seiner systematischen Typografie gelingt ihm eine Verdichtung verbaler und visueller Informationen im Sinne eines Wort-Zeichen-Feldes – beispielhaft hierfür steht Die schmutzigen Hände. Transparenz und Vielschichtigkeit verwendet Isolde Baumgart in ihrem Plakat für den Film Eroica: »Eine große Schrift über eine Darstellung gesetzt, braucht diese nicht teilweise zu verdecken. Denn man kann hindurchsehen, der Eindruck entsteht, als ob sich das Dargestellte auf einer anderen Ebene abspiele«, schreibt Isolde Baumgart 1987.

Im Gedächtnis des Betrachters verbindet sich das Filmkunstplakat untrennbar mit dem Film. Das Geheimnis dafür mag in seiner poetischen Kraft liegen, in seiner die Fantasie anregenden PlakatKunstWelt. Das macht die Filmkunstplakate zu Klassikern, das macht sie zu unterhaltsamen, »appetitlichen und sehr reizvollen« Wohltätern für Auge und Geist. Und gleichzeitig funktionieren sie wie eine Wiederbelebungsmaschine: Ein junges Publikum findet im Nachkriegsdeutschland mit ihrer Hilfe zur internationalen Filmkunst in einer Zeit des »Billigen-Jakob-Stils« der Grafik.

Dabei ist das Filmkunstplakat kein Einzelstück. Es ist eingebunden in ein ganzheitliches Medienpaket bestehend aus Filmheft, Trailer, Titelvorspann, Schaukastenmaterial und Inserat. Die hervorragend gemachten Filmhefte, die statt »primitiver Inhaltsangabe und des Ausplauderns von Starintimitäten fast handbuchartig über dieeigentlichen künstlerischen Fragen jedes Films informieren«, werden vom Kino- besucher gerne gekauft und gelesen. Die Typografie spielt dabei die dienende Rolle des besten Nebendarstellers.

Mit einem Auszug aus der Hymne von Maria Netter auf die vorbildliche Filmwerbung der beiden Filmverleiher enden wir nun, und schließen uns den Worten unumwunden an: »Warum können diese beiden Verleiher, was andere nicht können oder nicht wollen: eine gute Filmpropaganda betreiben? Die Frage beantwortet sich von selbst, sobald man die Plakate und Prospekte dieser beiden nicht nur mit Genuss betrachtet, sondern auch liest. Die beiden wollen, was andere nicht wollen: eine neue Filmkultur schaffen durch Vermittlung von ausschließlich künstlerisch wertvollen Filmen, und sie haben sich für ihren »Kunsthandel mit Filmen« die großen Kunsthändler und die großen Verleger zum Vorbild genommen. Die Einsicht, daß man für künstlerische Qualität nur mit grafischer Qualität werben kann, vielleicht auch das ermutigende und erfrischende Beispiel des Amerikaners Saul Bass, hat beide Verleiher dazu gebracht, von Anfang an mit einer konsequenten, guten und modernen Werbung an Kinotheaterbesitzer und Publikum zu gelangen.«