Ein Krimi in Bildern erzählt (Fliegenpapier)
Fliegenpapier habe ich Ende 1975 aus einer Liste von Buchprojekten, die mich damals interessierten, ausgesucht, weil ich nach den sehr kurzen Bilder-Stories, wie ich sie im »Hundebuch« zusammengefasst habe, einmal eine längere, zusammenhängende Folge als Buch realisieren wollte. Dashiell Hammetts knapp gefasste Kriminalgeschichten schienen mir als Vorlage dazu besonders geeignet. An Flypaper gefiel mir vor allem, dass alles in der Geschichte ein bisschen schäbig, fast alltäglich ist, es gibt darin keine übertrieben armen oder reichen Leute, keine „Supermänner“ als Detektive und auf der Seite der Kriminellen nichts Überragendes. Es interessierte mich herauszufinden, ob es gelingen würde, auf etwa 60 bis 90 Seiten mit je einem ganzseitigen oder einem unterteilten doppelseitigen Bild die Geschichte zu erzählen und dabei mit ganz wenig Text unter den Bildern auszukommen. Während ich für die anderen Bildergeschichten zumeist lineare Zeichnungen gemacht hatte, wollte ich diesmal mit Aquarellen arbeiten. Ich begann mit Skizzen für das zweite Kapitel, die wegen der längeren Dialoge an dieser Stelle zu den schwierigsten Aufgaben gehörten. Überhaupt entstanden die Bilder nicht in konsequenter Reihenfolge, ich begann irgend wo und entwickelte Sequenzen und Einzelbilder. Dadurch stiess ich später nicht selten auf Schwierigkeiten, wenn es galt, die Einzelbilder folgerichtig unterzubringen, Am leichtesten liess sich nach einfachen Rezepten arbeiten, wie zum Beispiel mit Variationen von Fenster ausblicken oder nach dem Schuss-Gegenschuss-Prinzip, bei dem auf einem Bild nur einer der Gesprächspartner gezeigt wird und auf dem folgenden dann sein Gegenüber. Wie gut sich die doppelseitigen Bilder in der Mitte unterteilen lassen, habe ich bei Hokusai gesehen. Während ich an dem Buch arbeitete, habe ich mir sehr viel Fotographie angeschaut, vor allem aus den USA. Allerdings habe ich nie Kompositionen oder Situationen direkt übernommen. Es hätte mich gelangweilt, nach einem schon vorliegenden Endresultat zu arbeiten ohne die Möglichkeit, mich selbst zu überraschen. Für die Treppenhausbilder zum Beispiel verbrauchte ich zwei Filme, verwendete jedoch keine der Aufnahmen als Grundlage für den Aufbau. Die Perspektiven habe ich teils modifiziert, teils konstruiert.
Für die Treppenhausbilder im zweiten Kapitel habe ich vor Ort zwei Kleinbildfilme belichtet, jedoch keines der Fotos für einen Bildaufbau benutzt, sondern die Perspektiven konstruiert und danach häufig variiert. Was mir die Fotos sehr wertvoll machte, über ihren Wert als räumlich exakte Beschreibung hinausgehend, waren ihre Werte von Licht und Schatten, das glänzende, dunkle, abgenutzte Holz, die entschieden düstere Atmosphäre dieses Treppenhauses, das mich immer wieder aufs neue beeindruckte während der Jahre, in denen ich in dem Haus in einer Mansarde wohnte, deren Winzigkeit durch die furchteinflössende Tiefe des Treppenschachts kontrastiert wurde. Einer Besonderheit dieses Schachts kam ich übrigens erst beim Betrachten der Fotoabzüge auf die Spur: sein Grundriss war nicht rechtwinklig, sondern leicht trapez-fähig angelegt. Dadurch verlangsamte bzw. beschleunigte er den Eindruck der Räumlichkeit, je nachdem auf welcher Seite man sich gerade befand. Die Personen für das Buch habe ich in vielen Skizzen entwickelt. Der Gestalt des Gangsters »Babe«, ein Koloss, der eine Hauptrolle in der Geschichte spielt, liegt ein Photo zugrunde, das Fernand Leger als Babe zeigt. Haltung, Kleidung, Licht und Schatteneffekte zeichnete ich vor einem grossen Spiegel. Für die Darstellung der kleinen Gegenstände der Möbel etc. nahm ich ebenfalls Skizzen und Zeichnungen zu Hilfe, die zum Teil nach Polaroid-Aufnahmen und Abbildungen aus Fachbüchern entstanden sind. Ganz bewusst verwendete ich eine Reihe von Clichés des typischen Gangsterfilms, wie z.B. große schwarze Limousinen, Waffen, Gestalten in glänzenden oder zerknitterten Anzügen, die auch in geschlossenen Räumen niemals den Hut abnehmen. Die Schauplätze der Handlung gehörten zu den wichtigsten Themen, weil sie für die Atmosphäre, die ich vermitteln wollte, ausschlaggebend waren. Den Gedanken an eine fiktive Grossstadt, zusammengesetzt aus Elementen von Catania, Frankfurt und London verwarf ich zugunsten von San Francisco, wo der größte Teil der Handlung spielt. Skizzen und Aufnahmen, die ich während ausgedehnten Fußwanderungen durch diese Stadt machte, dienten mir als Grundlage für die Darstellung von typisch amerikanischen Strassen, Plätzen, Stadtansichten, Läden und Bars. Von der ursprünglichen Idee blieben einzelne europäische Elemente und einige von Frankfurt inspirierte Bilder. Nach fast sieben Jahren war es dann soweit, aus den ursprünglich geplanten 60 bis 90 Seiten ist ein Buch mit 149 Seiten geworden.
Das erste Exemplar erhielt ich unmittelbar bevor ich eine Reise antrat. Ich habe es während des Fluges dann ganz langsam durchgeblättert. Ein Mann, der auf der anderen Seite des Ganges saß und ab und zu herüber geschaut hatte, fragte mich, als wir beim Warten nach der Landung nebeneinander standen: »Wer ist der Fotograf?« Ich sagte ihm, dass das Buch ganz aus Zeichnungen bestehe und er erschien verwundert.
Die Entfernung und die Schrägaufsicht, aus der er die Bilder gesehen hatte, erklären die Verwechslung nicht ausreichend. Die Ähnlichkeit beruht auf einer Zeichen- bzw. Malweise, die verschattete Parteien häufig so darstellt, dass in den Schatten keine Details, keine „Durchzeichnung“ zu sehen ist, was vor allem bei großen hell/dunkel-Kontrasten für Schwarzweiß-Fotografie typischer ist als für Zeichnungen. Ich bevorzuge diese Darstellungsweise teils um Licht und Schatten kontrastierender abzubilden, teils wegen der dabei entstehenden flächigen Wirkung. Die Komposition besteht dann weniger aus den Umrissen der Objekte als aus ihren Licht- und Schattenflächen.
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