Illustration

AutorIn
Hans Hillmann
Erscheinungsjahr
1989
Quelle
Stankowski/Duschek (Hg.): »Visuelle Kommunikation. Design-Handbuch«, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1989

Lexikalische Definitionen leiten den Begriff Illustration übereinstimmend ab von illustrare – erleuchten, erhellen, auch ausschmücken. Daraus ergeben sich verschiedene Arten von Illustrationen: die erklärende, anschaulich darstellende Funktion der Sachillustration – wie sie seit langem in naturwissenschaftlichen Werken, in Sach- und Fachbüchern verschiedener Gebiete, in lexikalischen Werken, in statistischen Darstellungen oder in solchen von Städtebau und Architektur existiert – und die Illustration von literarischen Texten, von Romanen, Kurzgeschichten, Gedichten oder anderen Textformen. Die letzteren sind in sich abgeschlossen, sie bleiben unverändert, wenn eine Illustration hinzugefügt wird, während z. B. bei einer Anleitung zum Gebrauch eines Gerätes die Funktion der Erläuterung und Erklärung auf beide Zeichensysteme, das Wort und das Bild, verteilt wird. Das Bild kann hier, zum Unterschied zur Illustration literarischer Texte, eine unverzichtbare Rolle übernehmen, je nachdem, was sich besser durch Bilder oder aber durch Worte erklären läßt; beide lösen einander ab in der Vermittlung von Information. Ist die Lage zweier Orte zueinander manchmal rasch und deutlich durch ein Bild, z. B. eine Wegeskizze zu klären, so wird zur Darstellung komplexer Zusammenhänge das Wort unentbehrlich.

Geht es im Bereich von Sachillustration eher um anschauliche, fachlich präzise und oft genaue Darstellung, so verlangt die Illustration von Literatur ausgesprochenes Textverständnis und subtiles Eingehen auf das geschriebene Wort. Um den Anforderungen von Interpretation und Kommentar durch bildliche Darstellungen, die diese Form von Illustration bedeutet, gerecht zu werden, muß der Illustrator ein kundiger Leser sein und ein guter Bildermacher; doch außer diesen beiden Aufgaben stellt die Illustrationsarbeit eine weitere: sie verlangt ein ausgeprägtes Interesse für die vielfältigen Beziehungen, die das Zueinander von Worten und Bildern entstehen lassen. Illustrationen können verschiedene Aspekte, die ein Text enthält, aufgreifen und ausdeuten, sie können dabei die beschreibenden Vorgänge direkt abbilden – wie in der klassischen Szenen-Illustration – oder aber Konzepte, Absichten und Tendenzen, die dem Text zugrunde liegen, in Form von symbolhaften Lösungen bildhaft machen. Sie können sich auch auf die Wiedergabe des historischen oder örtlichen Hintergrunds beschränken oder auch eine Stimmung, ein Flair hinzufügen, das im Text nicht enthalten ist.

Eine Illustration muß dem Text, zu dem sie gestellt wird, in einem allgemeinen Sinn entsprechen und dem Thema, das dort behandelt wird, gerecht werden. Falls der Text einzelne Dinge, Personen oder Orte beschreibt, sollte das Bild dem zumindest nicht widersprechen, da dies ein Versuch wäre, künstlerische Freiheit an der falschen Stelle, nämlich gegen den Autor und gegen den Leser, durchzusetzen.

Eine weitere, wesentliche Aufgabe, die in der vorangestellten Definition genannte Funktion des »Ausschmückens«, beschränkt sich nicht auf die aus der Geschichte des Buchs bekannten Formen der »illuminierten« Initiale oder der Vignette, sondern hat heute – im redaktionellen wie im werblichen Teil von Zeitschriften – zur Belebung der rein typografischen Seite in Form von illustrierten Rubriken oder anderen Bildszenen weitere Möglichkeiten gefunden.

Hier wird ein Aspekt berührt, der alle Formen von Illustration umfaßt: das Verhältnis der Bilder zur gesetzten Seite. Dabei reicht es nicht aus, daß einem gut lesbar und ästhetisch hervorragend gestalteten Text-Teil eine qualitativ entsprechende Illustration beigefügt wird, sondern es müssen beide Komponenten optisch miteinander eine wirkliche Verbindung eingehen, ineinander integriert werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Illustration im wesentlichen drei Aufgaben erfüllen kann: sie kann darstellen, sie kann interpretieren, sie kann ausschmücken und dabei sich entweder auf die eine oder andere Funktion beschränken oder allen drei Anforderungen nachkommen.

Darüber hinaus haben Illustrationen in manchen Auftrittsformen – wie im redaktionellen Teil einer Zeitschrift oder in der Werbung – die Aufgabe, neugierig zu machen und zum Lesen anzuregen. Illustrationen treten heute außer in Zeitschriften und Büchern in vielen Formen der Druckmedien auf, auch in Schautafeln, Ausstellungsgrafik und den Projektionsmedien. Daraus ergibt sich ein weiteres Kriterium, das der medialen Besonderheiten, die berücksichtigt werden müssen. Eine gute Buchillustration ist nicht unbedingt auch für einen Buchumschlag oder ein Plakat geeignet.

Schließlich ist zu sagen, daß eine Illustration, die das Thema erfaßt und es verständlich darstellt, die zum Lesen einlädt, die auch typografisch gut integriert ist und dem Medium und seiner Technik gerecht wird, erst dann eine wirklich gute Illustration sein kann, wenn sie auch ein gutes Bild ist, wenn sie den ästhetischen, d. h. künstlerischen Maßstäben genügt.

Der Begriff Illustration meint nicht eine bestimmte Art von Bildern. Im Prinzip können alle Bildzeichen zur Illustration eines Textes verwendet werden, Bilder verschiedenster Art: Gemälde, Zeichnungen, Stiche, aber auch Aufrisse, Pläne, statistische Darstellungen, Kollagen, Landkarten, Fotos usw. Der Begriff kann auf jede der genannten Darstellungen angewandt werden, wenn sie gemeinsam mit einem Text auftreten. Der Begriff Illustration meint vielmehr die Aufgabe, die Bilder dann übernehmen: einen Text zu begleiten, auf ihn aufmerksam zu machen, ihm voranzugehen oder ihn abzuschließen.

Demnach beschränkt sich die Bezeichnung Illustration auch nicht auf Bilder, die eigens für den betreffenden Text angefertigt wurden, sondern umfaßt auch solche, die in einem anderen Zusammenhang entstanden waren und jetzt eine illustrative Aufgabe übernehmen. Keines der Bilder, die den nachfolgenden Artikel illustrieren, ist für diese Veröffentlichung angefertigt worden, es sind Skizzen und Illustrationen, die für sehr verschiedene Texte entstanden waren – hier dienen sie dazu, die Vorgehensweisen zu illustrieren, die ich mit Worten beschreibe. Außer den vorher genannten Kriterien unterscheiden sich Illustrationen auch sehr durch den Grad ihrer Bildhaftigkeit – sie können abstrakt sein oder extrem naturalistisch oder eine Situation irgendwo zwischen diesen Extremen innehaben. Jedes Konzept, jede Idee verlangt die angemessene Bildform, um optimal wirken zu können.

Die mir bekannten Texte über Illustration widmen sich überwiegend Themen wie der Geschichte der Illustration, ihrer Technik, ihrem ästhetischen Wert und ihrem Verhältnis zur gedruckten Seite. Ich selbst sehe das Thema vom Standpunkt des Illustrators. Dementsprechend werde ich über meine eigenen Erfahrungen aus diesem Bereich schreiben und auf unterschiedliche Zugänge und Verfahren, die durch die verschiedenen Situationen bedingt waren, eingehen. Daraus ergibt sich, daß auch die nachstehenden Beispiele und Abbildungen meiner Arbeit entstammen.

Die klassische Illustration

An den Anfang stellen möchte ich den Vorgang der klassischen Illustration: eine Kurzgeschichte wird in einem Buch gedruckt und mit Illustrationen versehen. Dazu werden Textstellen ausgesucht, die für das betreffende Werk als typisch gelten können. Besonders wichtig wird diese Wahl, wenn nur eine Illustration gebraucht wird – meist für den Titel oder als Frontispiz -; sie muß dann allein, als bildlicher Widerpart zum ganzen Text, bestehen können.

Bei mehreren Illustrationen können verschiedene Aspekte des Textes bebildert werden, doch bleibt die Forderung, daß sie für das jeweilige Kapitel oder die jeweilige Szene treffend sein sollten. Nun besteht eine Szene in der Regel aus mehreren Situationen, eine Situation aus einer Reihe von Phasen und diese aus Augenblicken, so daß der Illustrator eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verfügung hat, aus denen er eine als Vorwurf für seine Darstellung wählen könnte.

Da dieser Vorgang der Wahl des Augenblicks sich im Kopf des Illustrators abspielt und außer dem einen gewünschten Bild als Spur höchstens Skizzen hinterläßt, die als solche nicht sonderlich geeignet sind, mit dem ausgeführten Bild verglichen zu werden, habe ich die hier gezeigten Beispiele einer Bildsequenz entnommen, die ich für eine Kurzgeschichte von Dashiell Hammett gezeichnet hatte. Die Folge zeigt eine Handlung, die in der Realität in wenigen Sekunden ablaufen würde, im Buch sich jedoch über acht doppelseitige Bilder abwickelt. Die Bilder zeigen so kurz aufeinanderfolgende Augenblicke aus der Szene, daß ich sie für geeignet halte, hier als Alternativen zu gelten, die man miteinander vergleichen und aus denen man eine Wahl treffen könnte.

Die Textstelle ist, entsprechend dem lakonischen Stil des Autors, nur knapp beschrieben: Der große, dunkelgekleidete Mann, der sich auf der Flucht befindet, erkennt zu spät, daß in dem Taxi, das er anhält, seine Verfolger sitzen. Die Szene endet damit, daß er entkommt. Zur vergleichenden Betrachtung der vier Alternativen sollte man sich vorstellen, wie jede davon allein, als Illustration verwendet, zum Text beitragen könnte. Die Frage der Wahl verweist auf den Unterschied zwischen ihnen und auf die verschiedenen Aspekte, durch die sie sich unterscheiden wie: Blickwinkel, Ausschnitt, Licht und Schatten.

Die Bildbeispiele sind aufgrund ihrer Herkunft aus einer Bildsequenz relativ homogen und lassen noch einige Möglichkeiten ungenutzt, die weitere Varianten ergeben könnten: konstant bleibt beispielsweise das Licht. Eine Veränderung zum Gegenlicht oder eine partielle Verschattung von Szene oder Hintergrund würde die Atmosphäre des Dargestellten weiter verändern.

Ausgesprochene Unterschiede bestehen bereits bei den Beispielen in der Wahl des Blickwinkels. Hier sollte man sich fragen, welche Bilder entstehen würden, wenn das Geschehen jeweils aus der Sicht eines der Beteiligten dargestellt wäre, auch aus der des Taxifahrers, der wegläuft, sich ab und zu umblickt und so den Verlauf der Auseinandersetzung aus ständig wachsender Entfernung wahrnähme. Eine Darstellung aus größerer Distanz würde die Vorgänge vermutlich weniger dramatisch erscheinen lassen, sie in die südliche Landschaft integrieren und dadurch einen weiteren Aspekt einbeziehen, der für die Illustration interessant wäre.

In umgekehrter Richtung weiterverfolgt, führte das Kriterium der Entfernung zu ausschnitthaften Nah-Ansichten, in denen Details eine aufschlußreiche Rolle übernehmen könnten. Dies sind nur einige der Aspekte, unter denen die bildliche Interpretation des Textes weiter variiert werden könnte. Mir geht es darum, deutlich zu machen, daß die Wahl des Augenblicks wichtig, doch nicht alleinentscheidend ist, daß die anderen, für die Bildgestaltung relevanten Gesichtspunkte und ihre Verbindungen miteinander von ebenso entscheidender Bedeutung sein können.

Das wesentliche Kriterium zur Bestimmung der geeigneten Illustration bleibt stets die Frage, welche Darstellung besser zum Genre der realistischen amerikanischen Detektivgeschichte – und speziell zu der von Hammett – passen würde, ob unter anderem die Anonymität der Bedrohung, die den beiden oberen Bildern zu eigen ist, den dynamischeren und direkteren Bildern der unteren Reihe vorzuziehen wäre oder umgekehrt. Selbstverständlich würde auch der Kontext das Zusammenspiel mit weiteren, zu anderen Szenen entstehenden Illustrationen eine Rolle spielen. Das Beispiel soll zeigen, daß selbst ein sehr kurzer Handlungsausschnitt eine große Anzahl an Bildlösungen ergeben kann. Es soll beim Leser! Betrachter möglichst viele Antworten auf die hier gestellten Fragen provozieren und damit auf die Fülle von Möglichkeiten hinweisen, die diese altehrwürdige Form der Illustration nach wie vor anbietet.

Zwischen den Zeilen illustrieren

Illustrieren wird häufig als eine Aufgabe angesehen, die die künstlerischen Möglichkeiten einschränkt. Jedoch liegt es gelegentlich weniger am Text als am Illustrator, wenn dieser von seinen Möglichkeiten keinen rechten Gebrauch zu machen weiß. In einer Geschichte wird folgende Handlung beschrieben: ein Mann schreibt einen Brief und wirft ihn in den Briefkasten.

Nach üblichem Verfahren stehen damit für die Illustration zwei Situationen zur Verfügung: der Brief wird geschrieben – er wird eingeworfen. Dazwischen liegt jedoch noch eine Anzahl von Phasen, die vom Text nicht beschrieben werden, weil sie sich aus dem Kontext ergeben und vom Leser automatisch ergänzt werden: Der Mann steht mit dem Brief in der Hand auf, er durchquert das Zimmer, öffnet die Tür, verläßt das Haus etc., bis zu der Situation am Briefkasten.

Ähnlich wie bei dem vorher behandelten Beispiel der Taxi-Szene aus dem »Fliegenpapier«, bei dem zwischen den dargestellten Augenblicken der Handlung noch viele andere liegen, die nicht in Bilder umgesetzt wurden, kann hier jede der Zwischenphasen zur Vorlage für eine Illustration werden. Statt zweier möglicher Situationen hat der Illustrator jetzt eine größere Anzahl, aus der er wählen kann, zur Verfügung – damit wird auch die Chance größer, darunter eine zu entdecken, die sowohl dem Text gerecht wird als auch seinen eigenen darstellerischen Vorlieben und Fähigkeiten.

Der Illustrator sollte sich jede einzelne der Phasen vorstellen, sie sich wie ein Stück Film im Kopf projizieren, dabei beobachten, wie sich die Bilder verändern, wie sie die Person nacheinander in andere Räume, vor wechselnde Hintergründe stellen. Es empfiehlt sich, den Vorgang mehrfach zu wiederholen, um Varianten der Wege, der Räume zu prüfen – soweit der Text das nicht festlegt -, auch um die so gefundenen Zwischenphasen aus unterschiedlichen Blickrichtungen und in wechselndem Licht und Schatten zu sehen. Wenn er z. B. annimmt, daß der Ablauf des Weges von einem freundlichen hellen Zimmer in ein düsteres Treppenhaus führt, müßte er sich fragen, welcher der Räume eher das Ambiente trifft, das der Text meint.

Durch dieses Vorgehen können Bildideen provoziert werden, die nicht entstanden wären, wenn man in einem zu oberflächlichen Verständnis von Werktreue dem Text gefolgt wäre. Außerdem ist es eine Arbeit, die das Vorstellungsvermögen fordert und fördert – eine der wichtigsten Voraussetzungen für diesen Typ der Illustration. Auf mich wirkt der Vorgang ausgesprochen stimulierend: die im Text geschilderten Vorgänge gewinnen an Plastizität, erscheinen mir augenblicksweise wie Realität, die man selbst zu erleben glaubt. Bei der Arbeit an »Holunderbluten«, das in der Nachkriegszeit spielt, haben sich solche Vorstellungen mit der eigenen Erinnerung verbunden, die dann in die Bildkonzepte eingeflossen ist.

Ausstattung und Atmosphäre

Eine Geschichte kann auch illustriert werden, wenn man sich mehr auf die Umgebung konzentriert, in der sie spielt, als auf die Handlung selbst. Mir ist ein Band mit Kurzgeschichten von Guy de Maupassant in Erinnerung, die mit Lithografien von ToulouseLautrec illustriert waren. In diesem Fall handelte es sich nicht um ein Illustrieren von Handlung, da die Grafiken ursprünglich nicht für diese Geschichten entstanden waren. Dennoch ergab sich eine starke Verbindung von Text und Bild, da Toulouse-Lautrec besonders überzeugend das Milieu schildert, in dem Maupassant seine Handlung ansiedelt. Hier malt die Illustration sozusagen den Hintergrund aus, vor dem die Figuren der Geschichte agieren. Ein weiteres Beispiel ist die Penguin-Ausgabe von Melvilles »Moby Dick«, in der authentische Fotografien vom Walfang und von Schauplätzen des Romans die Funktion der Illustration übernehmen.

Bei dem Projekt „Fliegenpapier“ schloß die Rolle des Illustrators auch Tätigkeiten ein, die der des Bühnenbildners im Theater oder des Ausstatters im Film nahekommen: der Entwurf und die Ausgestaltung von Innen- und Außenräumen, von Kleidung, die Wahl von Möbeln und Objekten. Dazu kam die Entwicklung und Darstellung der Charaktere. Im Gegensatz zu Chandler, dem anderen wichtigen Schriftsteller der realistischen Kriminalstory, liefert die Hammettsche Prosa wenig oder keine Beschreibungen in dem Sinn; so daß der Freiraum für Erfindung und Gestaltung sehr groß ist.

Dabei ergaben sich einige Funktionen, Notwendigkeiten, die ich berücksichtigen mußte: die Personen mußten so angelegt sein, daß sie sich noch voneinander unterscheiden, wenn sie in Rückansicht sehr klein oder zum Teil verdeckt im Bild sind; so habe ich dem Op, der klein und kompakt ist, in meiner Ausstattung einen weißen Anzug gegeben, während sein riesenhafter Gegenspieler, Babe McCloor, stets schwarz trägt.In ähnlicher Weise sind die Physiognomien der drei Hauptdarsteller nicht nur entsprechend ihrer Rolle und ihrem Charakter unterschieden, sondern darüber hinaus verschieden angelegt. Bei den Räumen beschränkten sich die Notwendigkeiten auf die Darstellung von Türen für die im Buch beschriebenen Auftritte der Personen.

Fenster hatte ich mehr als notwendig vorgesehen, um bei den in der Story dominierenden Dialogszenen gelegentlich den Blick an den Personen vorbei auf die Stadt zu lenken, um Außen und Innen zu verbinden. Als Beispiel für diese Arbeit und Arbeitsweise stelle ich hier zwei Innenräume einander gegenüber, bei denen der darin angelegte gegensätzliche Charakter nicht einer Funktion folgt, sondern Lebendigkeit und Abwechslung derAtmosphäre zum Ziel hat. Während »Joe’s« Raum relativ groß, sparsam möbliert, ja kahl ist, auch weder Bilder noch andere schmückende oder gemütliche Accessoires aufweist, ist die Wohnung der Hausverwalterin eng und mit schäbig plüschigen, schlecht kombinierten Möbeln und Objekten vollgestopft, die nur gelegentlich den Blick auf eine Alptraumtapete freigeben, auf deren Urheberschaft ich nicht ohne Stolz hinweisen möchte. Die Idee zu diesem Raum kam mir beim Anblick eines heruntergekommenen und völlig zugestellten Antiquitätenladens im Frankfurter Nordend.

Als Unterlage für solche Entwurfsarbeit existieren viele, reich bebilderte Bände über Architektur, Innenräume und Möbel, in denen allerdings die Räume durchweg so aussehen, wie sie vom Architekten oder Designer entworfen bzw. zusammengestellt wurden, während Darstellungen tatsächlich bewohnter Räume eher in Kunst- oder Fotobänden aufzufinden sind oder aus dem eigenen Erleben des Illustrators eingebracht werden sollten.

Bei der Arbeit an diesem Projekt hat sich mein Interesse an Ausstattung und Atmosphäre zunehmend verstärkt, und ich glaube, daß dieser Bereich auch in Zukunft noch unausgeschöpfte Möglichkeiten bietet. Bei dem hier verwendeten Begriff »Atmosphäre« (etwa gleichzusetzen den Worten Ambiente, Stimmung, auch »Flair«) geht es nicht etwa um das »Ausführen« von vom Autor vorgeschriebenen, möglicherweise sogar detaillierten Milieuschilderungen, sondern darum, eine Grundstimmung, die der Schreibweise des Autors entstammt und sich durch den ganzen Text zieht, zu verstehen und zu empfinden, um sie analog in die Sprache der Bilder zu übersetzen. In anderen Worten: Der Illustrator muß, als Voraussetzung für seine Arbeit, zunächst einmal Leser sein.

Illustration und Plakat im »twen«

Wie bei den vorhergehenden Beispielen wurde auch hier eine literarische Vorlage illustriert, nur diesmal nicht für ein Buch, sondern für eine Zeitschrift. Während im illustrierten Buch in der Regel keine anderen Bilder vertreten sind, die Illustration konkurrenzlos auftritt, folgen in einer Zeitschrift viele, meist sehr unterschiedlich bebilderte Artikel aufeinander. Zusammen mit der Fülle der im Heft verstreuten ganz- und doppelseitigen Anzeigen ergibt das Ganze – verglichen mit dem ruhigen Erscheinungsbild im Inneren eines Buches – ein »lautes«, buntes und wechselvolles Ambiente. In dieser zudem überwiegend von der Fotografie bestimmten Nachbarschaft können Illustrationen, die einen ausgesprochenen Zeichnungscharakter aufweisen, sehr eigenständige und auffällige Akzente setzen.

Bei den Illustrationen für »Twen« wurde diese Wirkung durch das Übertragen von Prinzipien erreicht, die aus den Erfordernissen eines anderen Mediums entwickelt wurden: aus dem Plakat. Auch das Plakat steht in «optischer Konkurrenz«; es benötigt eine kräftige, großzügige Komposition und Geschlossenheit, um sich von seiner Umgebung abzuheben. Seine primäre Aufgabe ist es, überhaupt wahrgenommen zu werden. Es soll größer erscheinen als alle anderen, und diese Aufgabe muß es im Außenraum, aus der Ferne oder Nähe gesehen, erfüllen können.

Diese Eigenschaften sind an sich bei der Zeitschrift nicht gefragt, da man diese stets aus dem gleichen Leseabstand sieht. Jedoch bedürfen die einzelnen redaktionellen Beiträge oder Rubriken eines entscheidenden optischen Charakters, um sich genügend gegen ihre Umgebung abzugrenzen.

Willy Fleckhaus hat als Art Director von «Twen« das Prinzip der «zu großen« Elemente eingeführt: Bei einem Artikel vergrößerte erden Titel «Ehe« derart, daß die drei Buchstaben sich über die ganze Höhe der Seite erstreckten; sie waren so groß, daß man die Zeitschrift ein Stück von sich weghalten mußte, um sie überhaupt lesen zu können. Diese auffallende, ja zunächst irritierende Wirkung galt es auch bei der Illustration einzusetzen. Als mir Fleckhaus seinerzeit anbot, für »Twen« zu illustrieren, hatte ich in den Jahren davor fast nur Plakate entworfen, und es schien der richtige Zeitpunkt, die in dem einen Medium gewonnenen Erfahrungen in ein anderes einzubringen.

Nochmals »twen« – eine symbolische Lösung

»Die Spezialität des Hauses«, zu einer Kurzgeschichte von Stanley Ellin in »Twen« erschienen, habe ich aus zwei Gründen hier aufgenommen: Zum einen stelle ich damit eine FotoIllustration vor, die nach Methode und Machart auf meinen Filmplakaten fußt, zum anderen ist hier die Methode der Bilderfindung, die sich nicht auf irgendeinen Teil der Erzählung bezieht, sondern das Thema in einem Zeichen visualisiert, noch deutlicher eingesetzt In der Geschichte wird ein besonders exklusives Restaurant vorgestellt, ein Geheimtip für Stammgäste, nur verschwinden diese auf zunächst unerklärte Weise. Erst in den letzten Zeilen enthüllt der Erzähler, daß jene, die am Anfang vor der Speisekarte saßen, durch die Sprache der Gastronomie verschlüsselt und ansprechend garniert, am Ende in ihr angepriesen werden. Die Darstellung bezieht sich in bewußt verrätselter Form auf das Thema Kannibalismus, bleibt jedoch vorerst die harmlose Anordnung von Kaviar auf einem Teller, da eine deutlichere Darstellung die Pointe der Story verraten würde.

Das Verständnis erschließt sich erst dem, der den Text liest. Entsprechend meiner damaligen Vorliebe für Verbindungen von Fotografie und Zeichnung habe ich diese Situation mit einer Anzahl von Eß- und Trinkszenen durchgespielt und die Kaviar-Idee ausgesucht.

Vignette und Illustration in der Zeitschrift

Als nächstes folgen zwei Beispiele aus der Zeitschrift-Arbeit, die in Bezug auf ihr Format Extreme sind: Vignette und doppelseitige Illustration. Die Vignette neben der Initiale die kleinste Form der Illustration, übernimmt außer der thematischen Darstellung hier eine typografische Funktion, wie sie sonst von Linien, Zwischentiteln und Typo-Signalen ausgefüllt wird. Sie gliedert die gesetzte Seite in kleinere, lesegerechtere Happen und bildet zudem gemeinsam mit dem Text eine besondere Struktur des Wechsels zwischen Bild und Schrift, in dem die Zeichnungen einen »schmückenden«, dekorativen Charakter annehmen. Auch das Verhältnis zu Text und Thema ist hier gelegentlich ein anderes. Die Vignetten stellen nicht im Text beschriebene Situationen dar, sondern den Vorgang, der dem Thema Voraussetzung ist: das Lesen selbst.

Das zweite Beispiel zeigt ein doppelseitiges Bild aus »Transatlantik«, das jeweils in der Mitte der Zeitschrift eingeschaltet wurde. Hier ist der thematische Bereich noch offener. Das Bild gehört nicht zu einem bestimmten Text oder zum Thema des Heftes, sondern sollte, ähnlich wie das ein Umschlagbild tut, Haltung, Tendenzen oder Ambiente der Zeitschrift ins Bild setzen und damitTeil des optischen »Erscheinungsbildes« dieser Publikation sein. Konnte man bei der Vignette sagen, daß nicht der Text, sondern ein ihm zugrunde liegendes Thema Ausgangspunkt der Bildidee war, so ist es hier die Zeitschrift selbst, ihr Konzept, das illustriert werden sollte. Es handelt sich dabei um ein Blatt aus einer Serie, die ich unter dem Arbeitstitel »Katastrophenbilder« vorgeschlagen hatte.

Dieser Fall ist auch deshalb interessant, weil sich hier das Betätigungsfeld des Illustrators in Richtung Konzept verschiebt: hier soll der Illustrator redaktionell mitdenken, er soll nicht nur sich vorstellen können, wie seine Grafik im Kontext der Seite oder des Artikels aussehen könnte, sondern er muß sie im größeren Zusammenhang des Zeitschrift-Heftes und in der periodischen Folge der Ausgaben sehen können und damit die Rolle eines »aktiven« Illustrators übernehmen, der zu Inhalt, Bildbeiträgen und Gestaltung Vorschläge einbringt.

Die meisten Beiträge in »Transatlantjk« sind Texte, denen mit dem Mittel der szenischen, klassischen Illustration kaum oder gar nicht beizukommen ist. Dadurch halten Text und Illustration eine gewisse Distanz zueinander, was durchaus kein Nachteil ist, sondern eine Art von fruchtbarer Spannung erzeugt, und die Zusammenhänge zwischen Texten und den Bildern, die sie begleiten, erschließen sich nicht durchweg auf den ersten Blick.

In der Praxis der redaktionellen Arbeit hatte das eine zusätzliche, pragmatische Komponente: gelegentlich war schon bei der Planung absehbar, daß gewisse Textbeiträge erst bei Redaktionsschluß eintreffen würden und somit keine Zeit bliebe, sie zu illustrieren (der Redaktionsschluß ist ein Termin, der etwa so leicht zu verschieben ist wie Weihnachten oder Ostern). Deshalb mußten Illustrationen entstehen für Texte, von denen manchmal nur das Thema bekannt war.

Illustration in der Zeitung

Den Globus habe ich zunächst zum Thema Überbevölkerung entworfen, später erschien er im Simplizissimus und danach in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung für den Titel: »Wider den Wahnsinn dieser Welt: Gedanken über die Wurzeln des Krieges und einen Weg zum Frieden«.

Die Zeitungsillustration muß sich den technischen Bedingungen des Mediums anpassen. Schwarze Linien, die als Schraffur oder in Kreuzlagen Flächen bilden können, sind hier befriedigend reproduzierbar, während feine Grautöne, wie beim Bleistift, eher grau und verwaschen wirken.

Umschlag-Illustration

Buchumschläge sind in Schaufenstern und Aufstellern Situationen ausgesetzt, in denen sie, ähnlich wie Plakate, mit vielen anderen in Konkurrenz treten, In Katalogen und Anzeigen werden sie der Öffentlichkeit in sehr kleinen Abbildungen vorgestellt. Deshalb müssen Titel und Illustrationen so angelegt sein, daß sie auch unter diesen Bedingungen noch ablesbar bleiben.

Autor, Titel und Verlag werden meist in großer Schrift-Type mit der Illustration auf der kleinen Fläche des Umschlages zusammengedrängt und sollen vom Betrachter möglichst auf einen Blick aufgenommen werden können. Durch diese räumliche Nähe müssen Schrift und Bild nicht nur in der Gestaltung aufeinander abgestimmt sein, es gehen durch die enge Nachbarschaft Inhalt und Bedeutung von Worten und Bildern eine nahe Beziehung zueinander ein: das Umschlagbild »illustriert« nicht nur den Inhalt, sondern auch den Titel. Wort und Bild können – wie beim Beispiel »Der verwaiste Swimming Pool« – einander ergänzen oder, wie im Fall des Umschlags zum Godard-Film, den Titelbegriff auf der Bildebene widerspiegeln.

Bildpaar und Sequenz

Wenn ein Text durch mehrere Bilder illustriert wird, hat sich der Illustrator neben den Text-Bild-Beziehungen auch mit dem Verhältnis dieser Bilder zueinander zu befassen, unteranderem auch mit der Reihenfolge, in der sie im Buch oder Heft erscheinen. Wenn es sich dabei um eine Erzählung handelt, die fortlaufend illustriert wird, ergibt sich die Reihenfolge meist von selbst, entsprechend dem Ablauf der Handlung. Buchillustrationen sind in der Regel durch mehrere Seiten voneinander getrennt und erhalten dadurch die Möglichkeit, relativ unabhängig voneinander zu wirken.

Trotzdem werden die vom Betrachter zum Beispiel wenn man ein solches Buch zum ersten Mal in die Hand nimmt – auch unabhängig vom Text als Bildfolge wahrgenommen. Für den Illustrator bedeutet das, sich mit den Kriterien, die die Zusammengehörigkeit einer solchen Bildfolge bedingen, auseinanderzusetzen.

Beispiele bieten Kunst- und Kulturgeschichte in Hülle und Fülle: Ob man zurückgeht zu den Bildteppichen von Bayeux, zu Rethels Totentanz oder anderen Bilderzyklen, ob man Max Ernsts Collagen-Romane, in der Fotografie das Werk von Muybridge oder von Duane Michels heranzieht, ob man Comics studiert oder das Kinetische in seinem eigentlichen Medium, dem Film, betrachtet, überall finden sich Hinweise, Beispiele und Anregungen, aus denen der Illustrator, entsprechend seinem Zugang zu den anderen künstlerischen Medien, auswählen könnte. In jedem Fall ist die Methode, aus anderen Bereichen Erfahrungen und Wissen zu entnehmen und zu übertragen, zugleich fruchtbarer und anregender, als es die bloße Betrachtung der bisherigen Geschichte der Illustration wäre. Das Verfahren ist anstrengender, doch auch lohnender: anstelle der Orientierung an Endergebnissen erfordert es die Umsetzung aus einem Bereich in einen anderen und bietet dafür die Chance, bisher nicht genutzte Zugänge zur Illustration zu erschließen.

Bei der Arbeit an »Fly-Paper« habe ich mit Bildpaaren und Bild-Sequenzen experimentiert und später diese Erfahrungen bei der ZeitschriftenIllustration verwandt. Bildpaare basieren einerseits auf der Ähnlichkeit zwischen zwei Bildern, andererseits auf dem Kontrast, den die Unterschiede zwischen ihnen bilden. Im ersten Beispiel sind es zwei Bilder, die auf einander gegenüberliegenden Seiten den gleichen Vorgang in zwei kurz aufeinanderfolgenden Phasen zeigen. Die Anregung stammt aus einer Form des Bilderrätsels, bei dem zwei Bilder gegenübergestellt werden, die auf den ersten Blick gleich erscheinen, aber verdeckte Unterschiede enthüllen, die der Betrachter feststellen soll. Das zweite Beispiel, ebenfalls aus dem »FlyPaper«, enthält noch einen anderen Anstoß: den der Vorher-Nachher-Gegenüberstellung, wie sie früher häufig verwendet wurde.

Ein weiteres Beispiel ist die Illustration eines Artikels über »Schamanen«, eine Zeitschrift-Illustration, die auf zwei aufeinanderfolgenden Doppelseiten erschienen ist. Entstanden ist es dadurch, daß ich beim Lesen des Textes auf das bekannte Gegensatzpaar Arzt-Tod stieß und auf der Suche nach Analogien auf den Dompteur im Zirkus. Der Begriff des Schamanen, jemand, der Kenntnisse eher vortäuscht, als daß er sie tatsächlich besitzt, legte den Rollentausch nahe.

Sequenzen

In dem Charakterbild des »Aufschiebers« wird beschrieben, wie eine Studentin, die vor dem Examen steht, vor der Abfassung einer schriftlichen Arbeit von Einsatzscheu geplagt wird; sie kann nicht anfangen und gerät in eine alptraumhafte Situation. Da dieses Thema sich weitgehend direkt, d. h. als Situationsdarstellung abbilden läßt, habe ich mir nächtliche Arbeitssituationen vorgestellt mit überquellenden Papier- und Bücherstapeln, möglichst chaotisch und beängstigend. Diese Vorarbeit ist dann auch in die Illustrationsfolge eingegangen. Ich bin dabei von dem Gegenüber von Mensch und Arbeit ausgegangen und habe dann Bild-Zeichen für das Begriffspaar und für die Darstellung von Angst und Lähmung gesucht. Dazu gesellte sich bei der Suche nach Analogien die Vorstellung, daß die Examinandin gebannt auf ihre Arbeit starrt, unfähig jedoch, sie zu beginnen.

Die Analogie vom Kaninchen und der Schlange entstand, und danach die Idee, Arbeitstisch und Studentin in einigen Phasen in diese Situation zu verwandeln. In diese Bildserie floß eine Erfahrung ein, die ich bei einer früheren Arbeit über Metamorphosen gesammelt hatte. Die im Charakterbild des »Aufschiebers« beschriebene alptraumhafte Atmosphäre hätte sich auch in einer Szenenillustration darstellen lassen, doch schien mir die »übersetzte« Bildfolge mit ihrer eigenen Pointe ungewöhnlicher und damit eher geeignet, den Blick des Lesers zu finden. Da diese Bildfolgen, ähnlich wie Texte, fortlaufend »erzählt« werden, bilden sie eine Art von Parallele zum geschriebenen Wort, haben jedoch eine ihnen eigene Abfolge, die nicht die des Textes ist. Der Begriff der Serie ist, über die hier vorgestellten Anwendungsformen hinaus, in der Bebilderung von Zeitschriften von allgemeiner Bedeutung: innerhalb eines Artikels, oft auch auf einer Doppelseite, tritt eine Reihe von Bildern auf; wenn man das Heft durchblättert, findet man die festen Bestandteile wie Inhaltsverzeichnis, Titel, verschiedene Rubriken in meist feststehender Folge nacheinander aufgereiht, die Zeitschrift selbst wird, in der periodisch wiederkehrenden Folge ihrer Ausgaben, zur Serie.

»Abstrakte« Texte (oder: Schwierige Texte)

Manche Texte laden geradezu zum Illustrieren ein, so daß sich schon beim ersten Lesen Bilder einstellen. Wieder andere sind spröde, sie scheinen sich einer Bebilderung zu entziehen. Häufig geht es dabei um komplexe Sachverhalte, wie das bei Berichten, Essays, Glossen oder anderem der Fall ist. Auch wenn dort gelegentlich Situationen und reale Szenen vorkommen, sind solche Texte in der Regel dem Verfahren der direkten Illustration nicht zugänglich. In den folgenden Fall-Beispielen möchte ich zeigen, wie bei verschiedenen Texten andere Zugänge und unterschiedliche Verfahren notwendig wurden.

Das erste Beispiel stammt aus einer Serie von Korrespondentenberichten über die in verschiedenen europäischen Hauptstädten zur damaligen Zeit umlaufenden Gerüchte. Nun hat diese Art von Nachrichten einen ausgesprochen vagen Charakter; Gerüchte als solche sind sicher nicht direkt visuell darstellbar, doch die Situationen, in denen sie entstehen und weiterverbreitet werden, rufen sofort Bildvorstellungen hervor: der Lauscher an der Wand, die Hand hinter dem Ohr, die Hand, die einen Vorhang beiseite zieht, die Tür, die sich einen Spalt öffnet, das Schlüsselloch etc. Ich habe eine Liste solcher Vorgänge notiert, daneben Bildzeichen für den nationalen Hintergrund – in diesem Fall Washington – aufgeführt: Coffeeshop, US-Flagge, Uncle Sam, die Landkarte, das Weiße Haus und dergleichen.

Eine solche Aufstellung ermöglicht es, ständig Bildsituationen abzurufen und geschwind und spielerisch Kombinationen zwischen den Worten der beiden Listen herzustellen und zu variieren: zum Beispiel ein Ohr an der Landkarte, jemand im Papierkorb des Präsidenten u.a.m. Bei diesem Verfahren geht es darum, sich nacheinander möglichst viele Situationen vorzustellen und eventuell miteinander zu verbinden. Dann wirkt der Vorgang sehr anregend, auch wenn viele der Lösungen nicht brauchbar sind. Das dekorative Moment – wie die Flagge, die den für die Illustration vorgesehenen Raum füllt – hat mich dann bewogen, die hier gezeigte Idee auszuführen.

Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um sogenannte »Charakterbilder«, Artikel, in denen bestimmte menschliche Eigenschaften wie Ehrgeiz, Pünktlichkeit oder andere vorgestellt und erörtert werden. Das erste davon ist die »Schamlose«. Hier bin ich nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum vorgegangen und habe durch viele Skizzen versucht, Personen herauszuarbeiten, auf die diese Bezeichnung paßt. Die Zeichnungen sollten auch den Begriffen »Enthüllen« oder »Entblößen« entsprechen, Analogien zum Thema »Haut« traten auf: Fell, Federkleid, Maske, Tätowierung, Körperbemalung.

Das zweite hier gezeigte Charakterbild ist das der »Ehrgeizigen«. Der Artikel schildert, wie sich diese Charaktereigenschaft bei einer Fernseh-Moderatorin in ihrem beruflichen und privaten Leben auswirkt. Die da im Wort ausgemalten Szenen könnten, in Bilder umgesetzt, durchaus Teile des Artikels illustrieren, würden aber am Thema »Ehrgeiz« vorbeigehen. Wie das »Gerücht« ist auch der »Ehrgeiz« nicht direkt abbildbar. Das ändert sich, wenn man das Thema umschreibt und dabei eine stärker bildhafte Sprache verwendet. Ein Beispiel: Der Satz »Jemand setzt sich rücksichtslos durch« evoziert kaum Bilder, wohl aber leistet das die Umschreibung »Jemand steigt auf, über andere hinweg«.

Die Analogie »oben-unten« für soziale Verhältnisse ist vertraut, es gibt sogar Begriffe, die sowohl in der Wortwie in der Bildsprache existieren: z. B. die »soziale Pyramide«. Die Worte »sie will nach oben« sind geeignet, solcherlei Bildassoziationen auszulösen. Sobald man begonnen hat, die Analogie zwischen körperlicher Bewegung und dem sozialen »Aufstieg« fortzusetzen, entstehen zu den Worten klettern, steigen, hangeln etc. weitere Bildvorstellungen, die dann mit den Situationen des beruflichen Lebens verbunden werden können.

Das Prinzip dieses Verfahrens ist denkbar einfach: Man sucht zunächst im Text Themen auf, die dann durch »Umformulierung« in eine bildhafte Sprache übersetzt werden, so daß sie illustrierbar werden – der abstrakte Begriff wird ersetzt durch metaphern-ähnliche Beschreibungen, die dann leichter als Bilder darstellbar sind. Dabei sollte man solche Bilder anstreben, von denen man annehmen kann, daß sie die Leser interessieren. Denn der Illustrator sollte sich – gerade in einer Zeitschrift – auch als Unterhalter verstehen.

Das Verfahren, statt einer Idee möglichst viele zu produzieren, ist nicht nur anregend, versetzt einen in euphorische Stimmung und kann dann zu weiteren, möglicherweise noch besseren Einfällen verleiten, es bietet noch andere Vorteile: man kann die eigenen Ideen in Konkurrenz zueinander sehen und dann die jeweiligen Vor- und Nachteile der Vorschläge besser erkennen, als wenn man sich ständig mit einem einzigen Erzeugnis beschäftigt. Auch ist es so weniger problematisch, wenn gelegentlich ein Entwurf nicht zur Ausführung gelangt: man hat ja noch andere, in die man gleichermaßen-seine Hoffnungen und Vorstellungen investiert hatte. Auch ist bei mehreren Entwürfen die Aussicht größer, darunter solche zu finden, die man besonders gern realisieren möchte; das verringert dann die Probleme, die beim Zusammentreffen eigener künstlerischer Vorstellungen und Auftragsarbeit bisweilen auftreten. Man kann so anders gesagt – im fremden Thema das eigene entdecken.